„Seit der Krieg begonnen hat, ist es in Jerusalem erschreckend still“
von Redaktion EKASuR
28.11.2023
In welcher Atmosphäre beginnt die Adventszeit in Jerusalem zwei Monate nach der Terrorattacke der Hamas?
Die Kirchen haben alle Advents- und Weihnachtsveranstaltungen jenseits von Gottesdiensten oder Andachten abgesagt. Es gibt keinen Adventsmarkt, keinen Weihnachtsumzug mit christlichen Pfadfinder*innen und keine Festkonzerte. Denn 80 Kilometer von hier sterben Menschen. Zweiter Punkt: Seit der Krieg begonnen hat, ist es in Jerusalem erschreckend still. Die Stadt hat vom Militär ein grünes Label bekommen und gilt als sicherer Ort. Die Stille rührt daher, dass sich viele Menschen trotzdem nicht vor die Tür trauen, abends kommt niemand in die Altstadt und die Händler machen ihre Geschäfte nicht auf. Das ist beklemmend. Und der dritte Punkt: Es gibt seit den Terroranschlägen vom 7. Oktober und dem anschließenden Krieg eine große Sprachlosigkeit. Die israelische Gesellschaft steht immer noch unter Schock, aber auch der palästinensische Teil ist völlig verzweifelt. Es besteht keinerlei gegenseitiges Verständnis und wir deutsche Evangelische hängen genau dazwischen.
Droht diese Sprachlosigkeit auch in Gewalt zu münden?
Die Sprachlosigkeit führt erst mal dazu, dass praktisch alle Versöhnungsprojekte auf Eis liegen. Wir hatten zum Beispiel Ende September mitgeholfen, in einer jüdisch-muslimisch-christlichen Aktion einen muslimischen Friedhof auf dem Zionsberg wieder in Ordnung zu bringen. Aber die jüdischen Organisatoren sind nach dem Terrorangriff völlig sprach- und fassungslos angesichts der ausbleibenden Kondolenzen der meisten christlichen Kirchen, die es nicht einmal schaffen, den Terror Terror zu nennen. Die extremistischen Stimmen in Israel werden dagegen lauter. Im Westjordanland, wo ja eigentlich kein Krieg herrscht, sind seit Kriegsanfang mehr als 200 Palästinenser von Siedlern erschossen worden. Da staut sich tatsächlich etwas auf. Die arabischen Israelis, die vor zweieinhalb Jahren beim elftägigen Gazakrieg noch dafür gesorgt hatten, dass es auch in den gemischten Städten Ausschreitungen gab, halten sich allerdings jetzt zurück und sprechen bei der Hamas auch von Terror. Aber gefühlt ist die Zweistaatenlösung weiter weg als je zuvor. Und gleichzeitig ist für mich als Außenstehendem klar: Sie ist die einzige Möglichkeit für dieses Land.
In Deutschland fühlen sich Jüdinnen und Juden zunehmend unsicher und alleingelassen. Wächst auch in Israel das Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein?
Eindeutig ja. Die Amerikaner haben zwei Flugzeugträger an die Küste geschickt, um den Iran und die Hisbollah in Schach zu halten. Aber schon Deutschland hat sich auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen bei der Verabschiedung der Resolution zu Gaza, mit der Israel zur Feuerpause aufgefordert wurde, nur enthalten. Und das wird hier wahrgenommen. Nicht mal Deutschland gilt allen als verlässlicher Partner, auch wenn sich die Regierung klar zum Existenzrecht Israels bekennt. Andere Staaten brechen sogar die diplomatischen Beziehungen ab. Israel fühlt sich von der Welt alleingelassen. Das ist allerdings auf palästinensischer Seite auch eines der Grundtraumata: Wir stehen allein da. Beide Empfindungen sind aus meiner Sicht nicht richtig, aber subjektiv ist das der starke Eindruck.
Der auf jüdischer Seite verstärkt wird durch den wachsenden Antisemitismus?
Ich habe immer allen Besuchergruppen gesagt: Wenn ihr begreifen wollt, warum Israel ein militärisch so aufgerüsteter Staat ist, besucht die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Vor Beginn ihres Militärdienstes gehen die israelischen Soldatinnen und Soldaten auch dorthin. Danach wissen sie, warum sie diesen Staat verteidigen müssen. Ich bin durch den rheinischen Synodalbeschluss von 1980 zum Verhältnis von Christen und Juden geprägt und quasi auch imprägniert worden. Ich habe schon von Kindesbeinen an mit Israel fühlen können. Seit ich hier bin, verstehe ich noch mal besser, warum die Jüdinnen und Juden sich ziemlich verlassen fühlen. Und ich verstehe noch mal besser, was Antisemitismus ist. Was in Deutschland und weltweit passiert, ist unfassbar.
Die Erlöserkirche in Ostjerusalem ist in diesem Jahr 125 Jahre alt geworden. Welche Rolle spielen die Kirche und die deutsche Gemeinde in ihrem Viertel?
Wir liegen in der Altstadt genau da, wo christliches, muslimisches, jüdisches und armenisches Viertel zusammenstoßen. Wir wollten das Jubiläum mit allen Seiten ganz fröhlich feiern und um unseren Kirchturm eine rote Schleife machen. Dann kam der Krieg und alles ist geplatzt. Und jetzt das Positive: Ich hatte für den Sonntag vor dem Reformationstag den Benediktinerabt der Dormitio-Abtei als Gastprediger eingeladen, der hier im Gottesdienst als katholischer Priester dann auch drei von Luthers 95 Thesen ausgelegt hat. Und zwei Tage später am Reformationstag sollte der anglikanische Erzbischof von Jerusalem anlässlich des Kirchenjubiläums bei uns predigen. Auch er kam trotz des Krieges, ging vor dem Gottesdienst zum lutherisch-palästinensischen Bischof und die beiden beschlossen, gemeinsam Abendmahl zu feiern. Die Unterzeichnung der entsprechenden Erklärung zur Abendmahlsgemeinschaft war wegen des Krieges ausgefallen, aber sie haben es trotzdem gemacht. Und zu guter Letzt kam auch der griechisch-orthodoxe Patriarch von Jerusalem in unseren Gottesdienst. Das hat es noch nie gegeben. Da haben wir zum Jubiläum zweimal Kirchengeschichte geschrieben. Der Geburtstag war ökumenisch ein Riesenschritt nach vorne.
Ist zurzeit noch normales Gemeindeleben möglich?
Ganz viele Gemeindeglieder sind derzeit in Deutschland. Wir haben sonntags weiter unseren Gottesdienst. Da kommen noch zwischen 15 und 25 Menschen. Wir sitzen dann hinter dem Altar im Stuhlkreis, die Christuskerze in der Mitte und über uns das Gesicht des Erlösers, das von einem Goldmosaik aus der kaiserlichen Entstehungszeit noch übriggeblieben ist. Eine Presbyterin hat mal gesagt, die Gottesdienste seien jetzt schöner und dichter als vorher. Und täglich um 12 Uhr haben wir ein Mittagsgebet. Meist bin nur ich da oder noch einer der wenigen, die geblieben sind, aber wir machen die Türen auf. An drei Tagen pro Woche bieten wir außerdem ein Friedensgebet per Zoom an. Da sind in der Regel drei oder vier aus dem Heiligen Land und 15 bis 20 aus Deutschland dabei. Und ein Musiker aus Österreich kommt jetzt, um trotz des Krieges seine Musikwoche für den nächsten Sommer zu planen. Da machen dann israelische und palästinensische, deutsche und österreichische Künstlerinnen und Künstler mit. Und er wird schon jetzt ein Friedenskonzert geben.
Können Christ*innen in Israel derzeit überhaupt Mittler sein oder stehen sie eher auf palästinensischer Seite, weil sie selbst überwiegend palästinensischer Herkunft sind?
Wir Christenmenschen machen hier weniger als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus und sind daher so unbedeutend, dass wir für keine der beiden Seiten bedrohlich sind. Und Christinnen und Christen sind auf beiden Seiten auch unter den Opfern, sowohl bei dem Terrorangriff der Hamas als auch in Gaza. Aber richtig ist: Jenseits unserer deutschsprachigen Gemeinde haben die christlichen Kirchen hier ganz überwiegend palästinensische Gemeindeglieder. Sie sind im Westjordanland und in Israel vertreten, in Gaza gibt es nur einige Hundert Christinnen und Christen. Die Kirchenoberhäupter halten sich sehr zurück, die Hamas öffentlich verantwortlich zu machen, die den Kirchen und Christenmenschen gegenüber ja feindselig eingestellt und gefürchtet ist. Ich kenne keinen von ihnen, der die Juden hasst, das sind schon Friedensmänner. Aber sie sagen praktisch nichts zum Terror der Hamas. Es gibt zwei Ausnahmen: Der anglikanische Erzbischof Hosam Naoum hat mit dem Erzbischof von Canterbury eine gemeinsame Presseerklärung herausgegeben – Canterbury hat da die Hamas-Massaker verurteilt, Jerusalem hat für das sofortige Kriegsende gesprochen. Und der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pizzaballa, hat erklärt, er sei sofort bereit, sich gegen israelische Kinder, die als Geiseln genommen worden sind, austauschen zu lassen. Er spricht auch ganz klar vom Massaker der Hamas.
Sehen Sie noch irgendwo Ansätze für eine friedliche Zukunft im Nahen Osten?
Als ich hierhin geschickt wurde, ist mir im EKD-Kirchenamt gesagt worden: Bruder Lenz, versuchen Sie gar nicht erst, den Nahostkonflikt zu lösen. Das wäre ja auch wirklicher Unsinn! Wir haben keine Antworten. Mein Interimsvorgänger Rainer Stuhlmann spricht davon, dass es zwei Wahrheiten gibt: eine israelische und eine palästinensische. Und die sind ernst zu nehmen und man kriegt sie nicht zusammen. Wir sind nicht diejenigen, die neue Perspektiven eröffnen können. Wir können aber versuchen, Begegnungsräume und Gesprächsräume offenzuhalten. Wir wollen mit beiden Seiten reden und werden für beide Seiten beten. Das geschieht in der Erinnerung daran, dass der Erlöser der Erlöserkirche als Friedefürst nach Jerusalem gekommen ist. Und diese Erinnerung hochzuhalten, ist unsere Aufgabe. Ganz fromm und schlicht gesagt: Wenn es einen Friedefürsten gibt, ist auch Friede möglich. Wenn es einen Erlöser gibt, ist Erlösung möglich. Und das nicht erst im himmlischen Jerusalem, sondern schon im irdischen.
Zur Person
Joachim Lenz ist Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit Sommer 2020 arbeitet er als evangelischer Propst in Jerusalem. Zu seinen Aufgaben gehört neben der pastoralen Versorgung der Evangelischen Gemeinde deutscher Sprache zu Jerusalem auch die Leitung der Stiftungseinrichtungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Jerusalem. Zudem ist er in Israel und in Jordanien Repräsentant der EKD.
Interview: Ekkehard Rüger / ekir.de
Links
Websites von Yad Vashem und der Evangelichen Gemeinde deutscher Sprache zu Jerusalem