Najla Kassab, Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Syrien und Libanon sowie Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen.
Najla Kassab, Pfarrerin der Evangelischen Kirche von Syrien und dem Libanon sowie Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen. Foto: WCRC / Anna Siggelkow

Nach der Explosion in Beirut – „Wir brauchen Verantwortung, Transparenz, Gerechtigkeit“

von Anna Neumann

12.08.2020

Viele Menschen leiden an einem Trauma, viele sind obdachlos, viele verletzt. Hilfe und Heilung tun not. Nach der verheerenden Explosion braucht der ganze Libanon einen Wandel.


Das sagt die evangelische Pfarrerin Najla Kassab aus Beirut. Die Libanesin ist auch Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen. Interview:

Wie haben Sie die Explosion erlebt?

Wir leben nicht im Zentrum, aber auch bei uns sind Fensterscheiben gebrochen – so gewaltig war der Druck. Selbst die Haustüre ist aus dem Rahmen geflogen. Sie wissen das ja: Die Druckwelle reichte sogar bis Zypern. 300.000 Menschen in Beirut sind ohne Obdach. Immer noch werden Menschen  vermisst – die Zahl der Toten wird womöglich auf 200 steigen. Es ist wirklich schrecklich. Ich habe mein Leben lang den Bürgerkrieg erlebt – aber was am 4. August passiert ist, übertrifft alles.

Was benötigen die Menschen jetzt am dringendsten?

In einigen der hauptsächlich betroffenen Beiruter Stadtteile leben Wohlhabende, aber im größeren Teil Arme. Die größte Sorge ist, dass diese Menschen wieder ein Dach über den Kopf bekommen. Sie wissen ja: Wir haben schon eine Corona-Pandemie und eine Wirtschaftskrise – nun kommt die Explosion hinzu. Viele Menschen haben nicht einmal das Geld, ihre Wohnung zu reparieren. Innerhalb von vier Sekunden sind alle unsere Träume geplatzt.

Sie sagen, Sie können trotz allem Schönes berichten?

Wir sehen die jungen Menschen in den Straßen, wie sie kehren. Andere helfen bei den Reparaturen. Und wer kann, bringt Lebensmittel. Eine wirklich sehr schöne Story ist die von Drillingen. Weil sie Frühgeburten sind, waren sie noch im Krankenhaus. Weil ihre Mutter zum Zeitpunkt der Explosion nicht dort war, hat eine Krankenschwester die Drei nach Hause gebracht und dabei ganz fürsorglich darauf geachtet, dass sie sie angeschaut haben – statt die Zerstörungen ringsum. Die Menschen helfen einander. In der größten Not sind sie füreinander da.

Welche Hilfe kann Ihre Kirche leisten?

Wir als Kirche haben die Organisation „Compassion Protestant Society“, die tausend Familien hilft, nicht unbedingt protestantischen oder christlichen Familien, sondern wir helfen denen, die Hilfe benötigen. Die Prioritäten sind: Wohnungen reparieren, Medikamente, Wasser. Für weitere Hilfen setzen wir auf die Kooperation mit großen Organisationen.

Welche Hilfe tut sonst not?

Große Sorge bereitet mir, dass praktisch alle psychologische Hilfe brauchen, denn viele Menschen sind traumatisiert. Ich danke ganz besonders an eine Mutter, deren Zweijährige fortwährend schreit. Die Mutter sagt, ihre Tochter ist völlig verändert.

Die libanesische Regierung ist zurückgetreten. Der Druck der Demonstranten auf den Straßen ist groß. Was braucht der Libanon aus Ihrer Sicht?

Wir haben fähige gebildete junge Menschen – aber sie sind nicht in entsprechenden Positionen. Die Jugend ist unsere Stärke. Aber wir kämpfen mit der Korruption. Dass im Hafen seit 2013 Stoff lagern konnte, der nun explodiert ist, ist Teil das Problems Korruption. Und ich sage: Korruption ist der wirkliche IS. Wir brauchen einen Mentalitätswechsel und Menschen, die verantwortlich handeln. Wir brauchen Ehrlichkeit, Transparenz, Respekt und Arbeitsethos. Als evangelische Kirche setzen wir uns für diese Werte ein. Beispielsweise in unseren Schulen leben wir das auch vor: Verantwortlichkeit. Ich setze auf Veränderungen, auf Gerechtigkeit, auf eine bessere Zukunft.

UPDATE 13.8.2020

Die Hilfsaktion von „Compassion Protestant Society“ (CPS) heißt „Beirut Hope“ und hat zum Ziel, tausend Familien zu helfen und ihre Wohnungen bzw. Häuser wieder aufzubauen. Diesem Spendenaufruf der Evangelichen Kirche von Syrien und dem Libanon (NESSL) hat sich auch die Evangelische Kirche im Rheinland angeschlossen. Spenden können auf folgendes Konto überwiesen werden: Gustav-Adolf-Werk, KD-Bank, IBAN: DE42 3506 0190 0000 4499 11, BIC: GENODED1DKD, Verwendungszweck: Nothilfe Beirut CPS