Martin Schmidt
Martin Schmidt

Martin Schmidt ist neuer Leiter des Sozialpsychiatrischen Zentrums

von Anna Neumann

11.09.2020

Psychische Krankheiten lösen bei Mitmenschen leider oft Angst oder Abwehr statt Anteilnahme aus. Aufklärung und Beratung bleiben deshalb Aufgaben des Sozialpsychiatrischen Zentrums (SPZ).


Das berichtet Martin Schmidt (52), der neue Leiter des SPZ, das zur Diakonie An Sieg und Rhein gehört. Ein Interview

 

Auf welchen Feldern ist die SPZ-Arbeit besonders gut bestellt?

Wir verfügen über ein großes Erfahrungswissen in der Begleitung von Menschen mit psychischer Erkrankung. Denn wir haben ein sehr erfahrenes Team mit ganz unterschiedlichen Fachlichkeiten. Außerdem ist das SPZ als Institution im Einzugsgebiet von Troisdorf, Niederkassel und Lohmar sehr gut etabliert – als Anlauf- und Kontaktstelle rund um das Thema psychische Erkrankung.

Nicht nur für psychisch Erkrankte?

Jeder kann sich an uns wenden: Betroffene, ihre Angehörigen, auch andere. Jeder, der eine Frage oder ein Anliegen hat. Vielleicht ein Nachbar, der sich Sorgen macht, zum Beispiel wegen nächtlicher Schreie. Man kann sich telefonisch oder auch anonym an uns wenden. Wir können nicht in allen Fällen selbst helfen, aber immer passgenau und so schnell wie möglich an die richtige Stelle weitervermitteln. Das SPZ fungiert auch als Verteiler, denn es ist sehr gut vernetzt in der Hilfelandschaft. Wir sind bekannt. Und wir kennen die vielfältige sozialpsychiatrische Landschaft – Ärzte, Therapeuten, Selbsthilfegruppen und die anderen Sozialpsychiatrischen Zentren. Das Wort Zentrum im Namen trifft das – auch im Blick auf unsere Lage. Wir sind zentral und leicht erreichbar.

Wo sehen Sie Modernisierungsbedarf?

Klar ist: Das Gebäude in der Emil-Müller-Straße ist in die Jahre gekommen und platzt aus allen Nähten. Die Zunahme von psychischen Erkrankungen erfordert, dass wir unsere Angebote erweitern und den veränderten Bedarfen anpassen. Wir sind auch mit neuen Zielgruppen konfrontiert. Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt kontinuierlich.

Warum nehmen psychische Erkrankungen zu?

Das liegt u. a. an Umweltfaktoren und höheren Stress-Levels. Außerdem entfallen häufig soziale Bindungen, die Menschen stabilisieren. Mehr Menschen leben allein, müssen dann Krisen allein bewältigen. Es sind immer mehr junge Menschen betroffen, weil sie mit besonderen Herausforderungen und Überforderungen schon in ihrer Entwicklungsphase konfrontiert werden. Andererseits erreichen immer mehr Menschen ein höheres Lebensalter, erkranken dann aber an Demenz oder Alzheimer. Und außerdem haben wir heute mehr Menschen mit – so heißt das – multiplen Problemlagen. Mehrere Probleme türmen sich, zum Beispiel ein psychisches Problem, dazu eine Sucht, existentielle Sorgen und außerdem Schwierigkeiten aus einem Migrationshintergrund.

Grundsätzlich gefragt: Warum erkranken Menschen psychisch?

Jeder Mensch erlebt im Laufe seines Lebens eine oder sogar mehrere Krisen. Die Art, wie wir eine Krise bewältigen, entscheidet darüber, ob es ein leichter Schnupfen oder eine schwere Grippe wird, und ob von der Erkrankung etwas bleibt oder ob wir genesen. Und dann gibt es ein Bündel von Gründen, die darüber entscheiden, wie wir mit der Krise umgehen: die eigene Biografie und das soziale Umfeld, akute Stressfaktoren wie der Verlust eines Arbeitsplatzes oder der Tod des Partners oder Kindes. Manche Menschen sind empfindsamer als andere, dafür können wir nichts. Und dann gibt es noch seltene Fälle wie beispielsweise Stoffwechselstörungen, die zum Ausbruch einer Erkrankung führen. Also: Jeder Mensch trägt das Risiko in sich, psychisch zu erkranken.

Wie hat die Corona-Pandemie die Arbeit des SPZ verändert?

Das ist ein großes Thema. Das SPZ war noch nie zuvor geschlossen. Viele unserer Angebote beruhen auf persönlichem und zwischenmenschlichem Kontakt – der war durch Corona zeitweise unmöglich oder erschwert. Wir haben die Angebote angepasst. Wir mussten mobiler und digitaler werden, um den Menschen neue Türen zu öffnen. Digitale Angebote werden wir weiter entwickeln, ich denke auch an ein digitales Kontaktcafé.

Sind auch Menschen durch Corona bzw. den Lockdown psychisch erkrankt?

Das kann ich noch nicht beurteilen. Es hat bei vielen zu Stress und Belastungsfaktoren geführt, die sich mittelbar und langfristig bemerkbar machen dürften. Wir müssen ja auch zwischen Auffälligkeiten und Erkrankung unterscheiden. Nicht jede Verstimmung ist eine Depression.

Wie unterscheiden Sie zwischen Früherkennung und falscher Pathologisierung?

Psychische Erkrankungen werden schnell unterstellt. Mir ist wichtig, dass genau hingeschaut wird. Ich empfehle dringend, Hilfe und fachlichen Rat einzuholen, statt selbst herumzudoktern. Das ist auch deshalb wichtig, weil psychisch Kranke häufig mit Entsolidarisierung zu kämpfen haben. Wer zum Beispiel an Krebs erkrankt, erfährt Anteilnahme. Bei psychischen Erkrankungen erleben wir den gegenteiligen Effekt: Menschen ziehen sich zurück, das Umfeld entfernt sich. Menschen können häufig mit Wesensveränderungen nicht umgehen, sie machen ihnen Angst oder lösen Aggression aus. „Du kannst dich bei mir wieder melden, wenn du wieder klar im Kopf bist“ – solch einen Satz würde man einem Krebspatienten niemals sagen. Aus Fürsorge wird Distanz. Das verstärkt für die Betroffenen die Probleme.

Was ich noch nicht zusammenbringe: Sie sprechen von Entsolidarisierung, sagen aber auch, dass psychische Erkrankungen glücklicherweise immer mehr enttabuisiert werden.

Ich registriere beides, was auch daran liegt, dass es einen Unterschied gibt zwischen öffentlichem Gespräch einerseits und individuellem Erleben bzw. Betroffenheit im persönlichen Umfeld andererseits. Je mehr Menschen über psychische Erkrankungen wissen, umso mehr Verständnis bringen sie auf. Sie wissen besser Bescheid, wo man Hilfe findet. So wächst Solidarität, auch im Persönlichen. Die Enttabuisierung ist nicht abgeschlossen, sie bleibt ein Dauerthema. Aufklärung und Beratung tun weiterhin not.

Diakonie An Sieg und Rhein im Web: diakonie-sieg-rhein.de