Einer der Notizzettel, die die Schüler zur Begegnung mitgebracht hatten.

Kartoffelpuffer, Ketchup und Kippa

von Anna Neumann

25.11.2021

„Alle Fragen sind willkommen“, sagt die Besucherin zu Beginn. Darauf haben sich die Schüler bestens vorbereitet, wie man schon an ihren sorgsam geschriebenen, gefalteten Notizzetteln sieht.


Benjamin entrollt sein Papierchen: Welche Feiertage gibt es, will der Schüler wissen. Eine Frage wie ein roter Teppich für Lidia Kibkalo (39). Sie legt los und beschreibt die jüdischen Feste, genauer gesagt die Festreihe, die im Herbst beginnt. Fast alle Feiertage haben drei Gemeinsamkeiten, erklärt sie und wählt drastischen Humor: „Jemand wollte uns umbringen; wir haben es überlebt; lasst uns etwas essen.“

Meet a Jew, so heißt das Format bzw. Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland. Lidia Kibkalo ist Jüdin und als Freiwillige zu Gast in der Abschlussklasse der LVR-Frida-Kahlo-Schule in Bonn-Vilich. Die Schüler stehen vor ihrem Hauptschulabschluss. Ihre Religionslehrerin Pfarrerin Christiane Böcker hat den eineinhalbstündigen Besuch initiiert.

Ihr Lieblingsfest? Chanukka!

Die Serie der Feiertage beginnt im Herbst mit dem jüdischen Neujahrsfest, dann folgt Jom Kippur, das Versöhnungsfest, ein Fest, das ohne das erwähnte Gründe-Trio auskommt, dann Laubhüttenfest, Tora-Fest. Chanukka, in diesem Jahr am 30. November, sei ihr Lieblingsfest, erzählt die Physikerin, die im Kernforschungszentrum Jülich als Wissenschaftlerin arbeitet.

Haben Sie schon mal Hass erlebt, will jetzt Yannick wissen. Da erzählt Lidia Kibkalo von ihren „zwei Leben“. Aufgewachsen in der Ukraine, erlebte sie noch die Sowjetunion, in der alles Religiöse verboten war. Ihre Großeltern, die den Holocaust überlebten, und ihre Mutter erzogen sie komplett assimiliert; sicherheitshalber verbarg und verleugnete die Familie alles Jüdische. Auf wirklich „unschöne Art“ erfuhr sie überhaupt, dass sie und ihre Familie jüdisch ist: Eine Mitschülerin scholt sie „Scheißjüdin“.

Viele Jahre später – eine weitere Erfahrung von Hass. Sie lebte längst in Deutschland, war hochschwanger, vielleicht hatte der Passant den Davidstern an ihrer Halskette entdeckt, jedenfalls bespuckte und beschimpfte er sie. „Es war sehr schlimm, aber, Gott sei Dank, es war nur einmal.“

Meet a Jew – das Gespräch beinhaltet beides: ernste und heitere Themen. „Leben Sie koscher?“, fragt Luke. Gegenfrage: Was heißt koscher? Das wissen die Schüler: Es heißt „rein“ und bedeutet: Verzicht auf Gelatine aus Schwein, Verzicht auf verschiedene Fleischsorten, Trennung von Milchigem und Fleisch. Ein Junge mit pinkem Haar fragt, warum es diese Regeln gibt. Sie stehen in der Tora – aber ohne Erklärung, ohne logische Erklärung, erhält er zur Antwort.

Was ist mit der Giraffe?

Rindfleisch ist erlaubt, Schaf auch, Schwein nicht. „Jetzt kommt eine Fangfrage: Was ist mit der Giraffe?“ Die Klasse rätselt. Erlaubt, meint einer. „Ich sag: nein“, erwidert ein anderer. „Passt nicht in den Backofen“, streut die Pfarrerin ironisch ein. Die Schächtung würde beim langen Hals nicht ohne Quälerei funktionieren, deshalb: nein, erklärt Kibkalo, ebenfalls ironisch. Giraffen standen bei Jüdinnen und Juden traditionell nicht auf dem Speiseplan.

Mehr Fragen zum leckeren Thema Essen: Lidia Kibkalo, die Mutter zweier Kinder, hat eine Flasche Heinz-Ketchup mitgebracht. Und so zeigt sie den Schülern, dass es dort auf der Rückseite ein Siegel gibt, das diese Sauce als koscher ausweist. „Gilt das auch für Hela-Ketchup?“, hakt der Junge mit dem pinken Haar nach. Nun, das lässt sich hier und jetzt im Klassenzimmer nicht klären.

Und was ist ihr Lieblingsessen?

Mal fragen die Jungs, mal der Gast: Was ist Ihr Lieblingsessen, will Luke wissen. Kartoffelpuffer mit Apfelmus! Was schätzt Ihr, wie viele der acht Milliarden Menschen weltweit sind jüdisch, fragt Lidia Kibkalo. Vielleicht 30 Prozent? Da heben mehrere den Arm. Oder ein Prozent? Ein Arm reckt sich. Nein, es sind 0,2 Prozent, also rund 16 Millionen auf der ganzen Welt. Kibkalo: „Deshalb gibt es vielleicht in Eurem Freundeskreis keine Juden. Es ist ja sehr selten.“

By the way: Ultra-Orthodoxe Juden, karikiert im Badewannen-Entchen, das sie mitgebracht hat, gibt es noch weniger, erzählt Lidia Kibkalo. Und dann beantwortet sie auch die Frage von vorhin: Heute lebe sie vegetarisch – und damit zwar nicht automatisch koscher, aber viel näher dran.

Koscher – doch, es taucht noch eine Frage zum schönen Thema Essen auf: Wenn man Milchiges und Fleischiges trennt, braucht man dann zwei Spülmaschinen, fragt ein Schüler. Schönes Thema! Manche sagen: Genau, es braucht auch getrennte Spülmaschinen. Andere sagen: Bei 70 Grad ist alles rein und eine Trennung nicht mehr nötig.

Kein Netflix, kein Tiktok am Shabbat

Shabbat – darum geht’s im weiteren Gespräch: „Kein Handy, kein Netflix, kein Tiktok“, sagt Lidia Kibkalo. Leichtes Seufzen im Klassenraum. Nachdem die Bedeutung der Kippa besprochen ist und weil ja alle Fragen willkommen sind, wirklich alle Fragen, möchte Luke wissen: „Fällt sie nicht runter?“ Haarklammern halten sie, sie habe ihrem Sohn aus dem dm gleich eine große Kiste gekauft. „Denn sie gehen ständig verloren.“

Die Zeit rast. Habt Ihr noch Fragen? Eine geht noch:  Was motiviert sie, beim Projekt „Meet a Jew“ mitzumachen? Als Studentin hatte sie einer Gruppe von Schülern Nachhilfe gegeben. Eine tolle Gruppe, wie sie erzählt. Physik, Chemie, Bio, Mathe. Eines Tages kam die Rede auf ihr Lieblingsfest, einer fragte, worum es da geht, sie erklärte Chanukka. „Warum weißt Du das?“, erntete sie als Reaktion, outete sich als Jüdin und bekam diese Antwort: „Hey, wie kann das sein? Du bist doch voll cool!“

Erinnerungsfoto von der Begegnung: Schüler der Abschlussklasse der LVR-Frida-Kahlo-Schule, Betreuerinnen, ihr Gast und ihre Religionslehrerin.
Anschauungsmaterial während der Begegnung: Ketchup-Flasche und Bade-Entchen.

Links

  • Website des Projekts „Meet a Jew“
  • Website der LVR-Frida-Kahlo-Schule
  • Pfarrstelle für Behindertenarbeit