Darstellung der Klitoris

Gegen weibliche Genitalbeschneidung

von Anna Neumann

21.08.2020

Mit tatkräftiger Unterstützung der Diakonie An Sieg und Rhein: In Sankt Augustin will ein Arbeitskreis Hilfe für Betroffene von weiblicher Genitalbeschneidung schaffen.


Eine junge Frau im Freiwilligen Sozialen Jahr, eine Familienrichterin und zwei Hebammen, ein Kriminalhauptkommissar und der Sozialdezernent, Kommunalpolitiker*innen, Gleichstellungsbeauftragte, Mitglieder des Kinderschutzbundes, Kita-Leiterinnen, Mitarbeitende der Stabsstelle Integration und Sozialplanung, Akteur*innen der Integrationsarbeit in Kreis und Kommunen, sowie Mitarbeiterinnen der Fachdienste und der Geschäftsführer der Diakonie An Sieg und Rhein: Rund vierzig Frauen und Männer haben sich im Sankt Augustiner Ratssaal zu einem Thema zusammengesetzt, das schmerzlich ist. „Ein Einschnitt in die Seele – Sankt Augustin sagt Nein zu weiblicher Genitalbeschneidung“ lautete der Titel.

 

 

 

Zwei Vorträge mit Aussprache dienten als Auftakt, um Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen zu diesem Thema zusammenzubringen. Die Arbeitsgruppe, der neben anderen die Leiterin der Integrationsagentur und die stellvertretende Leiterin der Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung der Diakonie An Sieg und Rhein angehören, wird die Feedback-Bögen von der Veranstaltung auswerten und nächste Schritte planen, um betroffenen Frauen und Familien mehr und besser zu helfen. „Es wird auf jeden Fall weitergehen“, verspricht Sibylle Friedhofen vom Deutschen Kinderschutzbund (Ortsverband Sankt Augustin). „Wir werden Hilfsangebote auf den Weg bringen.“ Die Veranstaltung wurde gefördert von „8sam! – Partnerschaft für Demokratie Sankt Augustin“.

Auch in der Diakonie ist das Thema bereits aufgekommen: Eine schwangere Erstgebärende sorgte sich um die Möglichkeiten einer spontanen Geburt. Aufgrund ihrer Beschneidung war dieses ohne eine medizinische Öffnung nicht möglich. Weder ihr Frauenarzt noch eine befragte Hebamme konnten ihr weiterhelfen. Es bedurfte der Suche der Beratungsstelle nach einem geschulten Mediziner sowohl für die Geburt wie auch im Anschluss für eine Rekonstruktion der Genitale. Die Belastung für die Schwangere war unermesslich: Neben der großen Überwindung, überhaupt dieses Thema ansprechen zu müssen, war der Weg zur Hilfe so weit.

Weibliche Genitalbeschneidung – englisch Female Genital Mutilation (FGM) – meint die (teilweise) Entfernung oder Verletzung der äußeren Geschlechtsorgane von Mädchen und Frauen aus kulturellen Gründen, die nichts mit Therapie oder Heilung zu tun haben. Er spreche nicht von Verstümmelung, weil sich das gegenüber betroffenen Frauen verbiete, erklärte der Gynäkologe Dr. Christoph Zerm (Herdecke) in seinem Vortrag. Der Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe berät seit 15 Jahren betroffene Frauen, erstellt ärztliche Gutachten für die Anerkennung in Asylverfahren. Bis heute hat er mit mehr als fünfhundert Fällen zu tun.

Berechtigter Asylgrund

Was nach einem Fest mit Trommeln, Bonbons und Riesen-Freude aussehe, seien in Wahrheit Beschneidungen unter miserablen hygienischen Bedingungen und Werkzeugen wie Küchenmesser, Rasierklinge oder Blechstück, berichtete die Geschäftsführerin des Vereins „stop mutilation“, Jawahir Cumar (Düsseldorf).

Um so richtiger, dass eine drohende FGM ein Asylgrund ist. Um so schlimmer, dass betroffene Frauen dies zu oft nicht wissen und über eine Beschneidung nicht zu sprechen wagen. Oder in Deutschland erleben, dass Dolmetscher in Anhörungen sie unterbrechen und ermahnen, nicht darüber zu reden. Weil FGM ein Tabu ist.

Betroffene benötigen Unterstützung

Jawahir Cumar wirbt um Verständnis, etwa für eine 19-Jährige, die auf dem Weg zur rekonstruierenden Operation mit Schuldgefühlen kämpft und sich als Verräterin fühlt, weil sie eine Entscheidung revidiert, die Mutter und Großmutter für sie getroffen haben. Cumar: „Diese Mädchen und Frauen brauchen dringend Unterstützung.“ Sie mahnt auch Traumatherapien an.

Viele Fachkräfte hierzulande benötigen noch Schulungen, erklärte Jawahir Cumar weiter. Mitarbeitende in der Flüchtlingsberatung, auch beispielsweise Ärzt*innen. Die Geschäftsführerin berichtet von einer schockierten Medizinerin angesichts einer fast zugenähten Gebärenden. Um auch kulturell „nichts falsch zu machen“ nimmt sie einen Kaiserschnitt vor. Eine bittere Mischung aus Hilfe, Hilflosigkeit und Unkenntnis.

Unter Strafe gestellt

Sorgen bereitet Cumar und Zerm das Einfliegen von Beschneiderinnen nach Deutschland und die so genannte „Ferienbeschneidung“ – beidem steht das Verbot von FGM entgegen, siehe Paragraph 226a Strafgesetzbuch. Entwickelt wurde ein mehrsprachiger „Schutzbrief“, der deutlich macht, dass FGM unter Strafe steht und Eltern helfen soll, einer Beschneidung der Tochter zu widersprechen.

„Keine Betroffene hat denselben Befund“, sagte Gynäkologe Christoph Zerm in dem Teil seines Vortrags, der grundlegendes Wissen zu FGM vermittelte. Der Arzt lobte, dass eine Rekonstruktionsoperation heute von Krankenkassen bezahlt wird und nicht mehr als kosmetisches Problem abgetan wird.

Vernichtender Schmerz

Die Klitoris zu beschneiden ist „wie dem Mann den Penis abzuschneiden“, sagte Zerm. Er erläuterte die Unterscheidung von vier Typen der weiblichen Genitalbeschneidung, darunter die Entfernung oder Kürzung der Klitoris und der kleinen und großen Schamlippen. Wird das gesamte äußere Genital abgeschnitten und – bis auf eine kleine Öffnung – verschlossen, wird fachlich von Infibulation gesprochen. Es sei das Schlimmste, was einem Mädchen oder einer Frau passieren könne. Sie treffe ein „absolut vernichtender Schmerz“.

Die medizinischen psychischen und sozialen Folgen und Spätfolgen von FGM sind vielfältig, betonte der Arzt. Sie reichen von Blutungen und lebensgefährlichen  Infektionen bis hin zum septischen Schock. Es besteht das Risiko der Verletzung von Nachbarorganen wie Darm, Harnröhre und Harnblase. Zu den lebenslangen Folgen zählt der Arzt Stauungen von Urin und Menstruationsblut, die zu Entzündungen und Unfruchtbarkeit, Inkontinenz und Nierenversagen führen können. Betroffene Frauen erlitten Zysten und Tumore.

Verlust des sexuellen Genusses

Der Verlust von sexuellem Genuss ist für Frauen der hohe Preis, den sie zahlen. Und für Zerm das mutmaßliche Motiv der Tradition der Beschneidung. Eine Beschneidung sei vergleichbar dem Trauma einer Vergewaltigung.

„Medikalisierung“ nennt der Gynäkologe Zerm jegliche Versuche von scheinbar guten Beschneidungen. Gut gemeint, aber ein No Go. Eine Beschneidung unter klinischen, hygienischen Bedingungen diene nicht der Überwindung von FGM, sondern sei ein „Einstieg in die Zementierung“, so Zerm. „Da ist unverhandelbar.“ Vielmehr müssten wir die Tradition der Beschneidung „frontal angehen“.

Weil FGM eine „pathologische männliche Besitznahme“ und „Gewalt gegen Frauen“ ist, wie Zerm betonte, gehört für ihn und Jawahir Cumar zu den verschiedenen Ansätzen bei der Bekämpfung von weiblicher Genitalbeschneidung unter anderem die Kontaktaufnahme mit Vätern bzw. Ehemännern. So arbeiten sie mit einem Verein von Männern in Düsseldorf zusammen, der zur Überwindung von FGM beitragen will. Nach einem Workshop, an dem auch „Hardliner“ teilnahmen, seien einige „zum Nachdenken gekommen“.