Afghanistan. Archivfoto von Oktober 2020. Foto: Sohaib Ghyasi / unsplash.com

Afghanistan – Die Sorgen bleiben gigantisch

von Anna Neumann

22.10.2021

Es ist noch kein Jahr her. Hier in Deutschland bereiteten sich die meisten Menschen auf den Heiligabend vor. „Es war zwölf Uhr acht. Ich kam aus dem Bad und sah ihr Bild auf Facebook."


Diana Jahanyar steht der Moment wie heute vor Augen, als die Nachricht von der Ermordung von zwei Verwandten in Afghanistan hereinplatzte. “ Ich werde das mein Leben lang nicht mehr vergessen.“

Die Geschwister waren zu Fuß unterwegs gewesen, hatten Reis und Mehl zu bedürftigen Familien gebracht, zu alleinerziehenden Müttern, ihren Kindern. Der 21-Jährige half einfach. Die 29-Jährige „war auch eine Frauenaktivistin“, erklärt Diana Jahanyar, sie sei öffentlich aufgetreten, war keine Unbekannte. „Man wollte ihre Stimme auslöschen.“

Mit Diana Jahanyar sitzen auch der ältere Bruder der beiden Ermordeten, Rafiullah Kohistani, und seine Ehefrau Gitta am Tisch des Zeitraums, dem Zentrum von Diakonie und Erwachsenenbildung in der Siegburger City. Die Drei berichten, wie es ihnen geht. Der Mann, im Wege des Familiennachzugs vor neun Jahren aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, zeigt in seinem Handy ein Foto seiner beiden toten Geschwister in offenen Särgen, dazwischen, in der Mitte, die fassungslose Mutter.

Wie vor zwanzig Jahren

Ein Doppelmord, nachdem sie längst alle Hebel in Bewegung gesetzt hatten, um die Schwägerin rauszuholen, wie Gitta Kohistani berichtet. Sie selbst lebt schon viele Jahre in Deutschland, war als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet; noch vor 9/11; auch damals vor den Taliban.

Diana Jahanyar, in Deutschland geboren, warnt, die Taliban zu unterschätzen, auch wenn sie von außen betrachtet vielleicht im Moment noch tolerant erschienen: „Es sind die gleichen Taliban wie vor zwanzig Jahren.“ So berichten es auch hiesige Medien in diesen Tagen: Mädchen durften zunächst nur noch bis zu sechsten Klasse in die Schule, jetzt auch das nicht mehr; Frauen dürfen nicht arbeiten; Mädchen und Frauen haben zuhause zu bleiben.

Eltern erreichten Evakuierungsflug

Es zerreißt die Familien, es quält die Herzen. Die Eltern der beiden Ermordeten konnten mit einem der Evakuierungsflüge im August ihre Heimat verlassen. Auch ihren Enkel, den Sohn der getöteten Tochter, konnten sie mitretten. Die Mutter hatte als Lehrerin gearbeitet, der Vater war in Regierungsdiensten. Sie sind mittlerweile in den USA, waren sogar – wie viele weitere Evakuierte – zehn Tage lang ganz in der Nähe: in Ramstein, in Quarantäne vor dem Weiterflug. So nah, so unerreichbar für eine tröstliche Umarmung.

Doch die älteste Tochter und deren Kinder schafften den Weg zum Kabuler Flughafen nicht, leben nun versteckt. Die Sorge um sie ist gigantisch. Diana Jahanyar weiß: „Man sucht nach ihr. Weil sie die Schwester der Frauenaktivistin ist.“ Sippenhaft. So wie die Taliban Aktivisten suchen. Und ehemalige Ortskräfte. Und Journalisten. „Sie alle werden gesucht, sie und ihre Familien.“

Unterstützung – auch für andere

Auf ein Ende zu hoffen, grenze an ein Wunder. Vielmehr verschlechtere sich die Lage: Die Gelder des Westens für Afghanistan sind eingefroren, Hunger verbreite sich. In ihrer abgrundtiefen Sorge versuchen die Drei, hiesige Politiker und Behörden um Hilfe anzuflehen. Nicht nur für die einzige in Afghanistan zurückgebliebene Schwester und deren Kinder. Diana Jahnayar: „Wir suchen Unterstützung – auch für andere.“

Auch Diakonie-Mitarbeiter Brahim Elhajoui kriegt das alles mit: Er kennt das Ehepaar aus Sankt Augustin seit vielen Jahren, als der Mann in die Migrationsberatung kam. Er unterstützte ihn, brachte ihn in den Integrationskurs und den Deutschkurs.

An die Diakonie An Sieg und Rhein wandten sich mit dem überstürzten Abzug Mitte August zahlreiche Afghan*innen und baten um Hilfe. Ehemalige Ortskräfte, eine Frauenrechtlerin, zwei Journalist*innen und eben viele viele Angehörige. Etwa ein ehemaliger Mitarbeiter einer US-Firma – der um Mutter, Schwester und Bruder bangte. Eine Frau, die um ihren Cousin bangte, der für amerikanische Sicherheitskräfte gearbeitet hatte. Angehörige einer Ortskraft. Angehörige eines Journalisten.

Diakonie hilft so gut es geht

Die Diakonie half, die Namen an das Auswärtige Amt in Berlin zu geben. Machte im Fall der Journalist*innen den Kontakt zur Organisation „Reporter ohne Grenzen“. Die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe organisierte kurzfristig fachliche Hilfe, vor allem in komplexen asyl- und aufenthaltsrechtlichen Fragen, setzte sich auf landespolitischer Ebene für die Betroffenen und die sich sorgenden Angehörigen ein.

In einem „Flüchtlingspolitischen Wort“ haben dieser Tage die Leitenden Geistlichen der drei evangelischen Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen ihre Stimme für die von der Entwicklung in Afghanistan betroffenen Menschen erhoben. Sie wissen um die „Verzweiflung“ hier lebender Menschen afghanischer Herkunft um ihre Verwandten im Herkunftsland und fordern großzügige humanitäre Aufnahmeprogramme sowie einen erheblich erleichterten und beschleunigten Familiennachzug.

Emotional gelähmt

Die Rettungen stehen aus. „Wir sind emotional völlig gelähmt“, sagt Diana Jahanyar. Seit Beginn des Gesprächs war sie souverän, gefasst, wortmächtig; in diesem Satz bricht ihr die Stimme. Der runde Geburtstag ihres Vaters – nicht gefeiert. Kindergeburtstage – nicht gefeiert.

„Wir hängen am Handy“, schildert Gitta Kohistani. Ewig aufs Handy zu schauen heißt eben: Keine Nachricht verpassen. Keine rettende Idee versäumen.

Anna Neumann

 

Service-Link

Hilfe für Migrantinnen und Migranten bei der Diakonie An Sieg und Rhein